|
In einem unendlich fernen Land, gleich um die Ecke und halb verborgen hinter der Baumallee entlang der Straße, stand das alte Lichtspieltheater. Die langen, dünnen Mondschatten lagen auf den Scheiben vor dem Plakat und den Aushangfotos. Beinahe war es, als wären sie auf der Seite der unglücklichen Kreatur: als wollten sie schützen, was die Menschen im Film als Ungeheuer bezeichneten und das sich in seinen viel zu engen grauen Kleidern zwischen die Schatten duckte. Der Gesichtsausdruck des Monsters auf den Bildern war voller Angst. Denn das Wesen, das von Doktor Frankenstein aus Leichenteilen zusammengeflickt und durch Blitze zum Leben erweckt worden war, hatte nie gelernt, mit seinen gewaltigen Kräften umzugehen. Es hatte nur die winzige Hand des Mädchens gesehen; so völlig anders war diese als seine eigenen riesenhaften Finger mit den dicken gelben Nägeln. Es hatte nicht die Absicht gehabt, dem Kind Leid anzutun. Aber jetzt war es geschehen. Die Krea-tur hatte das Mädchen mit seinen Pranken gepackt, ins Wasser geworfen und dadurch zu Tode gebracht.
Die Nachtwolken verdunkelten das Licht des Mondes. Dann war da nur noch der flackernde Schein der Fackeln, die die Männer hochhielten. Die Männer, die der Kreatur auf der Spur waren, die mit lauten Rufen und mit wutverzerrten Gesichtern näherkamen, die Rache nehmen wollten für das tote Kind, die das Monster zu Tode jagen würden.
Fasziniert stand Peter vor den Fotos im Schaukasten. Er wusste nicht genau, ob es heute das neunte oder schon das zehnte Mal gewesen war, dass er den Film um den Wissenschaftler, der Gott spielen wollte, gesehen hatte. Jedenfalls traf ihn die Erzählung über das traurige Ungeheuer immer wieder aufs Neue mitten ins Herz. Und der irre Doktor war so richtig schön gruselig. Um ihn und Ygor, seinen buckligen Gehilfen, spann Peter in Gedanken oft die unglaublichsten Geschichten.
Ein Lichttor huschte auf und Peter wandte sich um. Es war Herr Richard, der Gemüsehändler, und hinter ihm kam ein junges Pärchen ins Freie. Peter kannte die beiden nicht; aber er hatte im Kino beobachtet, dass sie nicht wegen des Films drin gewesen waren.
„Na, du Gruselfreund!“, rief Herr Richard und in seinem kahlen Birnenkopf öffnete sich dabei ein Mund ohne Zähne. „Wie gehtʼs, wie stehtʼs?“
„Och“, antwortete Peter, „alles okay.“
„Ja, jetzt ist noch alles in Ordnung! Aber auf dem Heimweg, hinter der ersten Ecke schon, da werden alle Kinomonster lebendig!“ Der Gemüsehändler entließ sein scharfes Zwiebellachen in die Nachtluft. Dann winkte er, schon halb im Gehen: „Bis morgen, ja?“
„Ja, bis morgen!“
Über Peter gingen die blauen Neonröhren der Lichtspiele-Schrift mit einem Klicken aus. Wenn so wie an diesem Abend nur vier Leute in der Vorstel-lung gewesen waren, dann blieb dem Besitzer nicht viel zu tun. Das alte Filmtheater gab es seit Beginn der Dreißigerjahre. Der Vater des jetzigen Besitzers, der des ständigen Umherziehens als Jahrmarktsfahrer überdrüssig war, hatte sich in der kleinen Stadt niedergelassen und das Lichtspieltheater gegründet. Doch heute konnte es mit dem neuen Kino mit seinen hellen Lichtern, den brandneuen Filmen und bequemen Sitzen nicht mehr mithalten. Dieses neue Kino befand sich direkt am Hauptplatz und war vor zwei Jahren eröffnet worden. Im selben Gebäude gab es auch ein Kaffeehaus und einen Raum mit tollen Flipperautomaten, die von den Jugendlichen der kleinen Stadt umlagert wurden.
Im alten Lichtspieltheater gab es nur einen schweren Vorhang aus dunkelrotem Samt, wackelige Holzsitze und in der rechten hinteren Ecke einen riesigen gusseisernen Ofen. Im Winter überknisterte der Ofen oft den Ton des Films; rote Funken sprühten durch die Ritzen zwischen den schwarzen Eisen-teilen. Dabei verströmte der Ofen so viel Hitze, dass man sich nicht in seine Nähe setzen durfte. Und die Bretter des Holzbodens knarrten bei jedem Schritt eines zu spät kommenden Zuschauers. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, liebte Peter das alte Lichtspieltheater.
Die Nacht war ohne Lärm. Nur die Grillen spielten in den dunklen Gärten ihr blechernes Gezirpe. Aber das gehörte für Peter zu jenen Lauten, die ein so fester Bestandteil der Sommernächte waren, dass sie nicht weiter auffielen. Schrien die Grillen einmal nicht, weil ein Regenguss oder ein vorherbstlicher Wind sie davon abhielt, dann spürten das nach und nach alle Leute: streckten die Nase in die Luft und mutmaßten, dass ihnen etwas abgehe, sie wüssten nur noch nicht genau, was es war.
Bevor er losging, warf Peter noch einen letzten Blick auf das bleiche Gesicht der unglücklichen Kreatur und dachte an die zarte, zerbrechliche Figur des kleinen blonden Mädchens. In diesen alten Filmen, die meist ohne Farbe waren, fanden Peters Fantasien Nahrung. Die Filme lebten in seinen Gedanken und Träumen weiter. Im Kino fühlte er sich sicher. Genau diese Sicherheit war ihm im wirklichen Leben fremd. Während ein Film lief, war Peter ein Held, der die waghalsigsten Abenteuer bestand; der schöne hilflose Frauen aus unglaublichen Gefahren und die Welt vor blutgierigen Vampiren und gefräßigen Ameisenmutanten rettete. Nach Ende der Vorstellung jedoch war er wieder bloß ein unsicherer Junge, der sich die meiste Zeit in seiner Haut unwohl fühlte.
Während der Schulzeit durfte Peter nur an den Wochenenden ins Kino gehen. Jetzt, in den Ferien, verpasste er kaum eine Vorstellung. Einmal pro Woche gab es Programmwechsel; so sah Peter jeden Film mehrmals. Er musste keinen Eintritt bezahlen, denn Herr Braun, der Besitzer des alten Kinos, war sein Freund. Dem Inhaber des Lichtspieltheaters war es lieber, den Film abzuspielen, weil jemand im Saal saß, als ihn nicht zu zeigen, weil niemand zu Vorstellung gekommen war.
Herr Braun bekam nämlich für sein altes Kino keine neuen Filme. Die wurden allesamt im neuen Kino gespielt, und deshalb zog es die meisten Leute auch dorthin. So zeigte Herr Braun nur noch Filme aus seinem persönlichen Archiv. Einmal hatte der Besitzer des neuen Kinos Herrn Braun deshalb schon mit einer Klage gedroht. Doch im Grunde genommen war ihm klar, dass ihm durch die Vorstellungen im alten Lichtspieltheater praktisch keine Zuschauer ab-spenstig gemacht wurden. Und so hatte er die Sache nach einiger Zeit auf sich beruhen lassen.
Herr Braun hatte sich im Laufe von Jahrzehnten ein Archiv angelegt. Wie bei anderen Leuten Kartoffeln oder gute Weine, lagerten die Filmrollen in dem kühlen Kellergewölbe genau unter dem Vorführsaal, zusammen mit Unmengen von Plakaten und Kartons voller Aushangfotos. „Beharrlichkeit ist der Schlüssel zum Erfolg!“, kicherte der alte Kinobesitzer immer stolz, wenn er darauf angesprochen wurde, wie er die Verleihfirmen dazu gebracht hatte, ihm die ausrangierten Filmkopien und das Werbematerial zu überlassen.
Beim Großteil dieser Streifen handelte es sich um phantastische Filme, also um Gruselstreifen und Science-Fiction, denn für diese Gattungen hatte sich Herr Braun sein Leben lang besonders begeistert. Sie standen auf dem Spielplan des alten Kinos. Da Peter genau für diese Art von Filmen schwärmte, hatte er sich, seit er zurückdenken konnte, von Herrn Brauns Lichtspieltheater geradewegs magisch angezogen gefühlt.
In diesem dunklen Kinosaal waren sie alle lebendig: King Kong, der Riesenaffe, und Godzilla, der japanische Saurier, Im-Ho-Tep, die schreckliche Mumie, und der froschartig-glitschige Kiemenmensch aus der Schwarzen Lagune. Hier focht der schrumpfende Mann sein Duell mit einer riesenhaften Katze aus und verwandelte sich Dr. Jekyll in sein dunkles Ich, den gruseligen Mr. Hyde. Hier huschte das Phantom durch finstere Gänge der Pariser Oper und hauste der gigantische Krake 20.000 Meilen unter dem Meer. Wenn der Wolfsmensch heulte, Dracula seine spitzen Vampirzähne bleckte und die Kampf-maschinen der Marsianer im Krieg der Welten drauf und dran waren, die Erde in Schutt und Asche zu legen, vergaß Peter um sich herum die Wirklichkeit.
Dann dachte er auch nicht mehr an Thomas, der schon im Kindergarten und dann die gesamte Volksschulzeit hindurch sein bester Freund gewesen war; dessen Eltern sich dann aber scheiden ließen und der mit seiner Mutter wegzog, in eine Stadt, die dreihundertfünfzig Kilometer entfernt war.
Die Trennung von Thomasʼ Eltern hatte auch die beiden Jungen auseinandergerissen. Sie waren die besten Freunde gewesen, die man sich nur denken konnte. Sie hatten alles voneinander gewusst, sie hatten keine Geheimnisse voreinander gehabt. Den ganzen Tag waren sie zusammengesteckt, sodass sie Peters Mutter oft scherzhaft „meine Zwillinge“ genannt hatte.
Sie hatten sogar Blutsbrüderschaft miteinander geschlossen. In einer feierlichen Zeremonie hatten sie sich gegenseitig mit dem Schweizermesser, das Thomas von seinem Großvater zum zehnten Geburtstag bekommen hatte, die Daumen aufgeritzt. Dazu hatten sie an einem der Schotterseen ein Lagerfeuer entfacht. Im rötlich-flackernden Schein der Flammen hatten sie die blutenden Daumen aneinandergepresst und einander mit ernster Miene geschworen, dass ihre Freundschaft ewig währen würde.
Doch es war ganz anders gekommen. Von einem Tag auf den anderen war Thomas nicht mehr da gewesen; vor Peter hatte sich ein schwarzes Loch auf-getan.
„Das ist ganz normal“, hatte Peters Mutter ihren Sohn zu beruhigen versucht, als die Briefe von Tho-mas immer seltener eingetroffen waren. „Das ist nun einmal so!“
Aber wir wollten immer Freunde bleiben!
Peter hatte ihr seine Enttäuschung, seine Ver-zweiflung entgegen geschrien. Doch nur in Gedanken. Äußerlich hatte er sich den Schmerz, der in ihm tobte, nicht anmerken lassen.
Er war am Rande des schwarzen Lochs balanciert.
Dann war gar kein Brief von Thomas mehr gekommen.
Und Peter war abgestürzt.
Schon mit Thomas war Peter oft ins Kino gegangen, sie hatten die gleichen Filme gemocht. Aber erst nachdem Thomas aus seinem Leben verschwunden war, war das alte Lichtspieltheater zu einer Art Fluchtpunkt für Peter geworden. Und Herr Braun zu Peters Freund. Außer dem Jungen und manchmal seinem Vater kamen meist nur alte Leute. Sie kann-ten die Filme, die gezeigt wurden, von früher her und sahen sie gern wieder. Ab und zu war da, so wie heute, auch ein Pärchen, das beim Schmusen nicht gesehen werden wollte. Finanziell rentierte sich der Betrieb des Kinos für Herrn Braun schon seit langem nicht mehr. Doch was sollte der alte Kinobesitzer sonst jeden Abend machen, wohin sollte er gehen, wenn nicht in sein Kino, und mit wem sich unterhalten, wenn nicht mit den wenigen Besucherinnen und Besuchern, die seine Filmleidenschaft teilten?
Daran dachte Peter, als er sich vom Schaukasten mit den Frankenstein-Bildern abwandte und auf den Heimweg machte. Es war eine laue Nacht. Die Kastanienfinger über Peters Kopf rieben sich aneinander und raschelten dabei wie feines Seidenpapier in einer Schachtel voll geheimnisvoller Überraschungen. Ab und zu fiel ein zerknüllter Papierfetzen vor Peter zu Boden. Dann bückte er sich danach. Er hob ihn auf, er ließ ihn von einer Handfläche in die andere gleiten und roch daran und drückte ihn gegen seine roten Wangen. Daraufhin hielt er ihn sich ans Ohr. Damit ihm das Raschelpapier all die wundersamen und auch die schrecklichen Geschichten erzählen möge, die es hoch oben in der Krone des Kastanienbaumes vom Wind erfahren hatte.
Da gab es Geschichten von einem Ungeheuer der Nacht mit seinen langen, bleichblitzenden Zähnen. Von den vollen roten Lippen einer schlafenden Schö-nen und ihrem weißen Nacken, in den der Blutsauger seine Zähne schlug.
Geschichten von den urzeitlichen Flügelechsen, die an der nackten Mondscheibe vorüberflogen und dabei die durchscheinende Lederhaut zwischen den Zehen und den daran sitzenden Klauen spannten. Ihre scharfen Schreie jagten Peter immer wieder Gänsehaut über den Rücken.
Und als hätte auch der Wind die Aushangfotos betrachtet, hörte Peter von Ygor, dem Buckligen, der auf der Suche nach frischen Leichenteilen unterwegs war. Der sich zwischen den Stämmen der Kastanienbäume hielt, der sich an ihre dicke, aufgeworfene Rinde drückte. Der dann, wenn er sich in Sicherheit glaubte, mit seiner grausigen Last auf der Schulter von Schatten zu Schatten humpelte.
Die Kastanienbäume bewegten ihre armartigen Äste und ihre Blätterfinger. Sie ließen den Wind zwi-schen den Zweigen hindurch fahren und dann began-nen auch sie zu sprechen. So war Peter bald von einem Rauschen aus Flüstertönen umgeben, wie es nur eine solche Sommernacht hervorzubringen ver-mochte. Von einem wahren Regen aus Worten und Geschichten, der ihn umspülte, der ihn einhüllte und in eine andere Zeit versetzte.
In eine Zeit, in der Peter hier nicht allein gestanden wäre, sondern mit seinem Freund Thomas. In der er sich die Gruselabenteuer gemeinsam mit ihm an-gesehen hätte und dann mit ihm darüber reden hätte können.
Aber diese Zeit, das war Peter klar, war vorüber.
Zwischen zwei Bäumen sah Peter zum nächtlichen Himmel hinauf. Dort zogen Wolken wie Rußballen vor den zerbrochenen Mond. Peter schlang die Arme um seinen Körper, denn plötzlich fröstelte ihn. Er setzte eine Miene auf, von der er hoffte, dass sie hart und überlegen wirkte; eine Miene, die seine wahren Gefühle verbarg. So gelang es ihm, die Angst in sich zu behalten und die Nacht, die um ihn herum war, zu täuschen.